2. Diagnose - Differenzialdiagnosen - Komorbiditäten
2.1 Diagnose einer Depression
In der ICD-10 werden depressive Syndrome differenziert nach
- Schweregrad
- Vorliegen somatischer oder psychotischer Symptome und
- Verlauf (monophasisch, rezidivierend, chronisch)
Diese Differenzierung ist wichtig, da damit Implikationen für die Therapie und das Ansprechen auf therapeutische Maßnahmen verbunden sind. Eine genaue Diagnostik sollte immer durch die explizite Erhebung aller relevanten Haupt- und Zusatzsymptome nach ICD-10 bzw. ICD -11 erfolgen.
ICD-10 nennt 3 Hauptsymptome einer depressiven Episode:
- gedrückte depressive Stimmung
- Interessenverlust und Freudlosigkeit
- Antriebsmangel und erhöhte Ermüdbarkeit
Zusatzsymptome sind:
- verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
- vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
- Schuldgefühle
- Psychomotorische Agitiertheit oder Hemmung
- negative und pessimistische Zukunftsperspektiven
- Suizidgedanken und –handlungen
- Schlafstörungen
- verminderter Appetit
Alle Symptome müssen durchgängig für mindestens zwei Wochen vorgelegen haben. Die Abfrage der Haupt- und Zusatzsymptome ist insbesondere deshalb notwendig, um depressive Episoden von leichten Befindlichkeitsstörungen, Anpassungsstörungen, „Burnout-Syndrom“ oder z. B. von normalen Trauerreaktionen abzugrenzen, die im Regelfall nicht medikamentös behandelt werden müssen.
Durch die Abfrage der Haupt- und Zusatzsymptome wird das Vorliegen einer leichten, mittelschweren oder schweren depressiven Episode diagnostiziert.
Insbesondere in der hausärztlichen Praxis berichten depressive Patienten häufig nicht spontan über die typischen depressiven Kernsymptome, sondern sie stellen sich meist mit unspezifischen Beschwerdebildern vor.
Bei Hinweisen auf das Bestehen einer möglichen depressiven Erkrankung sollten zunächst zugrundeliegende somatische Erkrankung ausgeschlossen werden. Gleichzeitig sollte das Vorliegen einer depressiven Störung bzw. das Vorhandensein weiterer Symptome einer depressiven Störung aktiv erfragt werden.
Risikofaktoren für eine depressive Störung können anhand der medizinischen und somatischen Anamnese erkannt werden:
- frühere depressive Episoden
- bipolare oder depressive Störungen in der Familiengeschichte
- Suizidversuche in der eigenen oder der Familiengeschichte
- Somatische und psychische Erkrankungen
- Substanzmissbrauch oder –abhängigkeit
- aktuell belastende Lebensereignisse (Rollenwechsel, Konflikte, Verlust von Angehörigen)
- Mangel an sozialer Unterstützung
Der „2-Fragen-Test“ kann dabei erste Hinweise auf das Vorliegen einer Depression liefern:
- Fühlten Sie sich im letzten Monat häufig niedergeschlagen, traurig, bedrückt oder hoffnungslos?
- Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude an Dingen, die Sie sonst gerne tun?
Werden beide Fragen mit „Ja“ beantwortet, identifiziert der Test das Vorliegen einer depressiven Störung mit einer Sensitivität von 96% und einer Spezifität von 57%.
Vom Vorliegen einer chronischen Depression spricht man bei einem Verlauf der schweren depressiven Symptomatik über einen Zeitraum von mindestens 2 Jahren. Es können dabei auch jahrzehntelange Verläufe vorkommen. Viele Patienten mit chronischer Depression weisen einen frühen Beginn und frühe traumatische Lebensumstände (häufig als Folge eines emotionalen und/oder körperlichen Missbrauchs) auf.
2.2 Differentialdiagnostik und Komorbidität
2.2.1 Psychische Komorbidität
Bei vielen psychischen Störungen gehören depressive Symptome zum typischen Krankheitsbild, so dass bei der Diagnosestellung einer depressiven Episode zumindest auf einige wichtige psychische Komorbiditäten gescreent werden sollte.
2.2.2 Somatische Komorbidität
Hinter unspezifischen körperlichen Beschwerden wie Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Schlafstörungen, Appetitstörungen oder Schmerzen, die als depressive Symptome imponieren können, können sich ernsthafte somatische Erkrankungen verbergen. Insbesondere müssen Tumorerkrankungen, endokrinologische, kardiovaskuläre und immunologische Erkrankungen, metabolische Störungen und Hirnerkrankungen ausgeschlossen werden.
Insbesondere bei der Erstdiagnose einer Depression, jedoch auch bei Persistieren der somatischen Symptome, sollte eine gründliche körperliche Anamnese erfolgen, ebenso eine umfassende internistische und neurologische körperliche Untersuchung. Im Rahmen der Diagnose einer Depression und vor Einleitung einer medikamentösen Behandlung sollte in jedem Falle eine Laboruntersuchung erfolgen. Dabei sollten zumindest das Blutbild, Serumelektrolyte, Leber- und Nieren- sowie bei Lithium auch die Schilddrüsenparameter bestimmt werden. Zudem sollten der Blutdruck und Puls sowie das Körpergewicht des Patienten erfasst werden. Vor Aufnahme der medikamentösen Behandlung ist die Durchführung eines EKGs anzuraten, da viele Antidepressiva Überleitungszeiten verändern.
2.2.3 Störung durch psychotrope Substanzen
Die regelmäßige Einnahme von psychotropen Substanzen kann depressive Symptome imitieren oder eine Depression verursachen. Bei jedem Patienten sollte deshalb im Rahmen der Diagnosestellung einer Depression auf das Vorliegen von Missbrauch oder Abhängigkeit von Alkohol, Medikamenten (insbesondere Benzodiazepine, Non-Benzodiazepin-Hypnotika und Opioid-Analgetika) oder illegalen Substanzen gescreent werden. Dies erfolgt im Regelfall durch Befragung, ggf. auch durch Laboruntersuchungen. Insbesondere die regelmäßige Einnahme von Cannabis kann zu einem sog. „amotivationalen Syndrom“ führen, das klinisch nur schwer von einer Depression zu unterscheiden ist.
2.2.4 Suizidalität
Depressive Störungen stellen die häufigste psychische Ursache für Suizide dar; daher gilt es, bei allen Patienten mit einer depressiven Störung die Suizidalität regelmäßig bei jedem Patientengespräch klinisch einzuschätzen und gegebenenfalls zu explorieren.
Für die Erfassung von Suizidalität eignen sich Screening-Fragen [P4-Screener], wie zum Beispiel:
- Haben Sie schon einmal versucht, sich selbst etwas anzutun?
- Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie, wo und wann Sie sich selbst töten können?
- Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass Sie sich in nächster Zeit tatsächlich das Leben nehmen?
- Gibt es Dinge in Ihrem Leben, die sie davon abhalten, sich selbst etwas anzutun?
Kann nach einer intensiven Abklärung keine überzeugende Distanzierung von Suizidalität erreicht werden, ist eine Intensivierung der Betreuung dringend indiziert. Diese kann, je nach Schweregrad, durch Überweisung in fachärztliche oder psychotherapeutische Behandlung, Klinikeinweisung oder Einbeziehung positiv erlebter Bezugspersonen erfolgen.
Bei akuter Suizidalität ist eine notfallmäßige Klinikeinweisung, notfalls auch gegen den Willen des Patienten, erforderlich.
Begeben sich Patienten primär mit den Folgen möglicher suizidaler Handlungen in Behandlung, sollten auf jeden Fall eine Suizidabklärung und eine Diagnostik hinsichtlich depressiver Störungen erfolgen. Mögliche suizidale Handlungen bzw. Anzeichen für ein suizidales Verhalten sind u.a. unklare Mischintoxikationen, Schnittverletzungen, Verletzungen infolge von Stürzen aus großer Höhe, unklare, möglicherweise selbst verursachte Verkehrsunfälle oder Strangulationsmarken. Es gilt zu beachten, dass das alleinige Ansetzen eines Antidepressivums aufgrund der langen Wirklatenz und der nicht nachgewiesenen antisuizidalen Wirksamkeit keine ausreichende antisuizidale Behandlung ist.