5.5 Diabetisches Fußsyndrom
Das diabetische Fußsyndrom (DFS) ist die zahlenmäßig und klinisch bedeutsamste Komplikation des Diabetes mellitus. Von den ca. 7,5 Millionen Menschen mit Diabetes in Deutschland haben gut 1 Million ein erhöhtes Risiko, im Laufe ihres Lebens eine DFS zu erleiden, weil sie Hinweise auf eine diabetische Polyneuropathie aufweisen. Sie haben bereits einen „Diabetischen Risikofuß“, denn die Polyneuropathie ist die entscheidende pathophysiologische Voraussetzung für die Entwicklung eines Fußulcus. Etwa 200.000 Menschen mit Diabetes werden jährlich wegen einer solchen Läsion behandelt. Das Krankheitsbild ist komplex und endet bei verzögerter und ineffektiver Behandlung nicht selten mit einer Minor- oder Majoramputation. Septische Verläufe sind möglich.
Die Polyneuropathie hat u. a. zur Folge, dass das Schmerz-, das Berührungs- und das Temperaturempfinden gestört sind. Das führt zu einem Wahrnehmungsverlust der Organregion Fuß (Leibesinselschwund). Druckstellen und beginnende Läsionen am Fuß werden vom Patienten ignoriert und das auslösende Agens bleibt wirksam (z. B. zu enge Schuhe). Bedingt durch diesen Wahrnehmungsverlust sucht der Patient in der Regel viel zu spät ärztliche Hilfe. Im Rahmen der Polyneuropathie entwickeln sich häufig Fehlstellungen im Zehen- und Vorfußbereich (z. B. Spreizfuß mit Hallux valgus, Krallen- oder Hammerzehen), da es durch die Schädigung der motorischen Fasern zu einer Dysbalance zwischen intrinsischer und extrinsischer Fußmuskulatur kommt. Durch die resultierende Fehlbelastung sind Schwielenulcera an charakteristischen Stellen die Folge, die vom Patienten nicht beachtet werden und nicht selten zu Gelenk- und Knocheninfekten führen. Oft ist dann eine Minoramputation nicht mehr zu vermeiden. Je nach Ausdehnung des Infekts kann es bis zu lebensbedrohlichen Zuständen kommen.
Das Krankheitsbild wird noch dadurch kompliziert, dass bei etwa 40 Prozent der Betroffenen eine klinisch bedeutsame pAVK vorliegt, die die Abheilung der entstandenen Läsionen verhindert.
Wegen der Komplexität und der klinischen Brisanz des Krankheitsbildes DFS ist in der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Zusammenführung der Anforderungen an strukturierte Behandlungsprogramme nach § 137f Absatz 2 SGB V verbindlich festgelegt:
„Bei Vorliegen folgender Indikationen muss die koordinierende Ärztin, der koordinierende Arzt oder die koordinierende Einrichtung eine Überweisung der Patientin oder des Patienten zu anderen Fachärztinnen, Fachärzten oder Einrichtungen veranlassen, soweit die eigene Qualifikation für die Behandlung der Patientin oder des Patienten nicht ausreicht: bei oberflächlicher Wunde mit Ischämie und allen tiefen Ulcera (mit oder ohne Wundinfektion, mit oder ohne Ischämie) sowie bei Verdacht auf Charcot-Fuß“ (DMP-Anforderungen-Richtlinie, in Kraft getreten 01.01.2019).
Das Leistungserbringerverzeichnis von „auf die Behandlung des diabetischen Fuß spezialisierte Einrichtungen“ findet man unter: https://www.arztsuche-bw.de/ (unter „weitere Optionen“, “DMP“). Die DDG-zertifizierten Fußbehandlungseinrichtungen sind zu finden unter: https://ag-fuss-ddg.de/
Zwei Aspekte der Behandlung des DFS sind von essentieller Bedeutung:
Aufgrund des vollständigen Wahrnehmungsverlustes der Füße durch die Polyneuropathie kann der Patient nicht aktiv zur Entlastung der Füße beitragen. Aufforderungen, konsequent spezielle druckentlastende Schuhe zu tragen, fruchten daher nichts.
Der nicht abnehmbare Total Contact Cast / TCC und die vom Patienten nicht zu entfernende konfektionierte Orthese sind die wissenschaftlich am besten evaluierten Methoden der Druckentlastung beim DFS. Die IWGDF-Guidelines empfehlen sie daher als Mittel der ersten Wahl. In der Praxis haben sich aber auch spezielle Verbandstechniken bewährt, die unter Verwendung von Filzmaterialien als Bestandteil des Verbandes die erforderlichen druckentlastenden Effekte enthalten. Druckentlastung ist dadurch ohne Zutun des Patienten andauernd gewährleistet. Die Anwendung dieser Techniken erfordert spezielles Knowhow und kann in der Regel nicht in der unspezialisierten Hausarztpraxis geleistet werden. Beim akuten Charcotfuß sind TCC oder konfektionierte Orthesen die Therapie der Wahl. In speziellen Fällen sind auch individuell gefertigte Orthesen erforderlich. Auch diese Systeme können nur in speziellen Fußambulanzen angeboten werden.
Neben der fehlenden oder unzureichenden Druckentlastung ist nicht selten eine klinisch bedeutsame Ischämie Ursache für eine fehlende Heilungstendenz beim DFS. Es muss daher immer geprüft werden, ob eine ausreichende Durchblutung des betroffenen Fußes vorliegt.
Aus den Registerdaten des Fußnetzes Nordrhein ist bekannt, dass knapp 10 % der Patienten einer Revaskularisation bedurften, dies war besonders häufig bei Läsionen im Fersenbereich der Fall.
Wenn keine kräftigen Fußpulse tastbar sind, muss eine Messung der Dopplerdrucke erfolgen und der ancle-brachial-index (ABI) bestimmt werden. Bei Druckwerten < 50 mm Hg ist keine Wundheilung mehr möglich. Ab einem ABI von < 0,9 ist von einer Ischämie auszugehen und eine weitergehende Diagnostik in der Gefäßmedizin erforderlich.
Achtung: Die Dopplerdruckmessung ist nicht selten durch das Vorliegen einer Mediasklerose verfälscht. Bei einem ABI > 1,3 ist von einer Mediasklerose auszugehen. Hier kann gegebenenfalls eine direktionale Doppleruntersuchung mit Analyse der Flusskurven und der Pole-Test (siehe Anhang) weiterhelfen.
Eine Revaskularisation ist beim DFS mittels endovaskulärer / operativer Verfahren bis zum Fuß hin häufig möglich und effektiv. Sie sollte insbesondere vor einer erwogenen Majoramputation unbedingt in Erwägung gezogen werden. Im Zweifelsfall ist die Einholung einer Zweitmeinung empfohlen.